Sorger lief ins Zwielicht hinein,
in ein
milchgraues Etwas, in dem kein Himmel auszumachen war, keine niedrige
Wolkendecke und keine Dämmerung, und die schneebedeckte Straße verlief sich
ohne Übergang nach allen Seiten. So ähnlich konnte sich jeder seine Sonntagnachmittage
vorstellen, obwohl er nur selten eine Andeutung darüber machte, vielleicht am
ehesten damals, als er meditatives Laufen anpries, Lebenslauf hatte er es
genannt, und was er dabei genau vorhatte, ist nicht bekannt, weil nie jemand
kam und teilnahm. Mehr spürte als sah Sorger die von Autoreifen festgepressten
Spuren und mied sie, weil sie seinen Fußsohlen keinen Wiederstand gaben, und
suchte lieber den frischgefallenen Schnee dazwischen, der ihn samtig aufnahm
und von dem er sich wieder abdrücken konnte, scharfe Trittspuren hinterlassend
für eine halbe Stunde, bis auch sie wieder zugedeckt waren und so jede Spur
getilgt. Leichtfüßig war er diesmal, schon beim ersten sanften Anstieg schien
sich sein Laufgestell hineinzulegen in die Strecke, ihn hinaufzuziehen die
weiten Bögen der Dorfstraße, an Weidezäunen und Hofmauern entlang, während
unablässig die Flocken niedersanken auf Sorger, auf die Straße, auf die leeren
Wiesen und die weißen Dächer, als ob das alles gleich wäre, einerlei, eigentlich
nichts wäre, ohne Eigenheit und Kontur. Niemand war zu sehen an diesem Abend,
alles hatte sich zurückgezogen, kein Atemzug, höchstens einmal Rauchschwaden,
die Sorger noch wahrnahm, wer weiß womit da geheizt wurde. Aus den Ställen kam
kein Laut, auch kein Stampfen, sogar das Hundegekläff aus dem Tierasyl blieb
aus, als wollte nichts sich verraten durch irgendeine Regung, sondern die Gunst
der Stunde nutzen und untertauchen.
Sorger hörte die Stimmen noch einmal, von den
kurzen Gesprächen am Vormittag, von dem Mitarbeiter, der das bereits
Vereinbarte nocheinmal in Frage stellte, der nun ein Aber dazusetzte hinter die
Vereinbarung, und er meinte darin eine andere Stimme zu mitzuhören, die sich da
hineinmischte und auf den Mesner Einfluss zu nehmen versuchte, ohne ihn selbst
darauf anzusprechen. Sorger spürte, wie er umgangen werden sollte, weil jemand
die direkte Anrede scheute – eine Person, die gleichwohl heute anwesend war,
aber unentwegt mit anderen ins Gespräch vertieft, und immer so, dass sie ihm
den Rücken wies und mit großem Nachdruck auf andere Mitarbeiter einredete, er
konnte nicht ausnehmen, worüber, und es schien sich immer wieder fortzusetzen,
sodass Sorgers Begrüßungen es nicht hatten unterbrechen können, als er jedem
die Hand schüttelte, und schließlich war er mitten durch die Gruppe
hindurchgegangen und an seine eigene Arbeit geschritten.
Bei der Predigt hatte er dann von den vielen
Stimmen gesprochen, die jeder hörte, bei den Entscheidungen des Alltags, wo
Gründe gewogen wurden, aber auch bei den durch Massenmedien verbreiteten
Meinungen, die von Menschen für die eigenen gehalten wurden, sodass Sorger in
der Stimme eines Sprechers zuweilen die Stimme des Redakteurs hören konnte,
dessen Artikel er am Vortag in der Zeitung gelesen hatte. Daran erinnerten sich
später viele. Und über die Telefone und neuen Medien würden Stimmen auf die
Menschen einprasseln und sich wichtig machen und sie zu beherrschen suchen mit
ihren Klingeltönen, und sie würden auf bereitwillige Unterwerfung treffen wie
bei dem Besessenen in der Synagoge, wo sie sich allerdings verraten hätten, als
sie sich Jesus ängstlich entgegenstemmten und sich an ihre Herrschaft
klammerten: Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth – wir, sagte
der Mann, tönte es aus dem Mann, hörte es die ganze Gemeinde in der Synagoge,
hörte auch Jesus, obgleich dort nur ein Mann saß inmitten stumm Gaffender, ein
Besessener. Später war es still um ihn geworden, nachdem die Geister ihn unter
Geschrei verlassen hatten, hörte man auch von ihm nichts mehr, nun, da es seine
eigene Stimme gewesen wäre. Darüber hatte Sorger gar nicht mehr gesprochen,
dass der namenlose Mann offenbar nach seiner Befreiung verstummt war, dass man
nichts mehr von ihm hörte, als wäre er ohne die Geister nicht mehr interessant
und hätte, rein aus sich selbst, gar nichts zu sagen.
Er sah ihre Gesichter wieder, spürte, wer bei
welchem Wort zusammenzuckte, oder wessen Gesicht sich bei einer Erklärung
aufhellte, sah auch noch einmal, wer konsequent zu Boden blickte oder zum
Nachbarn, während Sorger zwischen den Reihen stand und nach links und rechts
sprach, Fragen stellte und Beispiele gab.
Später, als er mit den Taufbewerbern die
Stelle noch einmal durchging, auf Englisch und mit der Übersetzung in Farsi, da
nickten sie, oder als er die Dämonen, die den Persern auch aus der schiitischen
Glaubensvorstellung vertraut waren, mit Stimmen
wiedergab, ging ein Murmeln reihum, und sie erkannten die Übertragung und
akzeptierten sie. Überhaupt schien es ein besonderes Einverständnis zu geben
zwischen ihm und den Asylsuchenden, ob sie aus Persien oder Afghanistan oder
Kamerun kamen oder aus Nigeria. Das sagten alle übereinstimmend; nur war es
eine andere Frage, ob man das befürwortete und zustimmte. Manche hätten den Pfarrer lieber für sich allein gehabt,
wurde ihm zugetragen, und es war nicht recht auszumachen, wie die Überbringer
der Stimmen dazu standen. Und was solle es überhaupt bedeuten: den Pfarrer für
sich haben. Sie machen doch ohnehin, was sie wollen! Sollte es nicht eher
heißen: er solle ihnen zustimmen? Ihren Ansichten. Ihren Lebenswegen. Ihrer
Verschrobenheit und Selbstgenügsamkeit. Vielleicht war gerade das der Grund des
Misstrauens gegenüber den Fremden: dass sie die Provinz infrage stellten, mit
ihrem Weltblick. Den der Pfarrer offenbar erwiderte.
Hallo Weichensteller!
AntwortenLöschenDu vergleichst den Besessenen, dem Jesus die Dämonen austreibt und der dann sprachlos ist, mit den Menschen, die mit ihrer Stimme der Zeitung oder dem TV nachsprechen? Sie haben selbst keine Stimme, keine Meinung.
Bei den vielen "Medienstimmen", welche es heute gibt, eine eigene Stimme, ein schwieriges Unterfangen.
Gruss schlagloch.
Stimmen zu hören gilt doch als Zeichen einer Nervenkrankheit, oder?
AntwortenLöschen