Die erste Entdeckung, als Sorger in der
Provinz ankam, in diesem alten, leerstehenden Pfarrhof, offensichtlich seit
Jahrzehnten nicht bewohnt und für fremde Bedürfnisse möbliert, während an
seiner künftigen Arbeits- und Wohnstätte noch gebaut und renoviert wurde, eine
vorübergehende Bleibe also, in der Mitte eines fremden Dorfes, das fremd
bleiben sollte, mit einer fremden Sprache und ohne irgendeinen Berührungspunkt,
wenn man von dem Tennisplatz absah und dem Freibad, das er dann zwar häufig
besuchte, aber dort dann nicht die Dorfbewohner traf, sondern die Talbewohner,
die Urlauber, die Ausflügler. Ein Schwimmbad ist geradezu das Gegenteil von
Wohnen. Auch wenn viele mit ihren Kühltaschen und Kinderspielsachen
aufmarschieren und sich am liebsten ein Wohnzelt hingestellt hätten auf die
Liegewiese. Spätestens am Abend mussten sie doch alles wieder räumen und die
Wiese verlassen, damit sich das Gras wieder aufrichten konnte und die Wellen
sich wieder glätten.
Die erste Entdeckung war der Friedhof.
Nicht, dass er auf einem Erkundungsgang
zwischen den Gräbern umhergestiegen wäre.
Nicht, dass er die Aufschriften studiert hätte
mit ihren Sprachen und den wenigen, immer gleichen Namen.
Die Bewohner waren es, die ihn staunen ließen.
Wie ist es möglich, dass in einem so kleinen
Dorf, das sich in fünfzehn Minuten von einem bis zum anderen Ende
durchschreiten ließ, keine Stunde vergeht ohne Friedhofsbesucher, fragte sich
Sorger. Vom Morgen bis zum Abend.
Immer wieder hörte er den Wasserhahn rinnen,
hörte die Gießkannen volllaufen, hörte die Stimmen der Besucher ohne Scheu laut
etwas über die Mauer hinweg rufen. Es schien sogar, als würden Familientreffen
abgehalten hier, zuweilen tollten Kinder über den Platz, während Erwachsene
frische Erde heranschafften oder Blumenstöckchen aus dem Kofferraum, geschäftig
alles, ein Teil des Dorflebens, vielleicht sogar der wichtigste, sicherlich der
wichtigste, da es ja kein Gasthaus gab und Tennisplatz, Schwimmbad und die
Haltestelle der Bahnlinie nur zum Teil dem Dorf zu gehören schienen.
Was aber macht den Friedhof zu einem
Mittelpunkt des Lebens?, über legte Sorger, am Fenster hinunterblickend auf die
an der Friedhofsmauer geparkten Autos.
Müssen die Toten bewacht werden?
Damit sie dort blieben und nicht gesetzwidrig
die Hinterbliebenen nochmals heimsuchten
und ihre abgelaufene Frist eigenmächtig verlängerten, die Ordnungen des Lebens
durcheinanderbringend und die Grenzen verwischend?
Oder mussten die Toten versorgt werden mit
brennenden Kerzlein oder frischen Schnittblumen für die Vasen, die unaufhörlich
weiterwachsenden Bärte gestutzt und die Hügelchen gekämmt, da sie das selbst
nicht mehr konnten wie in ihren letzten Jahren eine greise Urgroßmutter in
ihrem Stuhl in der dunklen Stube.
Vergeblich suchte Sorger in ihren Gesichtern
und Bewegungen nach Anzeichen von Andacht oder Trauer, von Nachdenklichkeit
oder Ergriffenheit. Am Friedhof herrschte eine Alltäglichkeit wie an jedem
anderen Ort, auch zwischen den Wochentagen und Sonntagen war kein Unterschied
zu erkennen.
Erst viel später, und an einem anderen Ort,
begann Sorger zu begreifen, dass es sich um nichts anderes handelte als um eine
erweiterte Form des Wohnens. Das Grab war eine Verlängerung des Vorgartens.
Ein beschrifteter Teil des eigenen Hauses, von
jedermann zu identifizieren.
Ein Familienterritorium, das wie eine
Schnittmenge die verzweigten Wohnstätten der Angehörigen vereinte.
Eine gemeinsame Repräsentanz der verstreut
Lebenden, die ihre Zusammengehörigkeit hier hatten, an diesem Ort, der durch
einen Namen markiert war, einem Familiennamen und zwei Zeitangaben.
Die Repräsentanz war das Grab,
Familienterritorium, Abkunftsmarkierung, Zuordnungspunkt, Erklärungsgeschichte,
Rechtfertigungsort für die Lebenden.
Der Friedhof im Ganzen aber war die
Repräsentation des Dorfes.
Hier war jeder Teilnehmer ausgestellt. Von
hier liefen Fäden in jedes Haus. Hier zeigte sich der Zustand jeder Familie.
Wie der Zustand der Kleidung, der Frisur, des Blumenkistchens am Fenster, des
gewaschenen Autos vor dem Haus.
Die Form des Grabsteins.
Die Länge der heruntergebrannten Kerze.
Die Frische der Blumen.
Und welches Bild gaben die Gräber?
Bestürzt stellte Sorger fest, dass die
Grabsteine immer mehr zu grauen Blöcken wurden wie in der Stadt, die kunstvoll
geschmiedeten Kreuze verschwanden, Holzkreuze gab es ohnehin kaum mehr, als
wäre es peinlich geworden, mit dem Holz des Kreuzes in irgendeine Verbindung
gebracht zu werden. Stadtblöcke. Blockstädte. Quader. Monolithen. Male. Selbst
die runden Grabhügel, eigentlicher Mittelpunkt der Betriebsamkeit und immer
noch an die Form des Liegenden erinnernd, wurden allmählich abgelöst und
verdrängt durch in geraden Stein gefasste Platten der Gräber jüngeren Datums,
und erst recht durch die sogar in dieser Dorfidylle auftauchenden Urnengräber,
noch versteckt in der rückwärtigen Friedhofsmauer. Der ganze Friedhof schien in
einer unmerklichen Wandlung begriffen, schien seine erdig hügelige Lebendigkeit
zurückzuziehen in bloß flache rechtwinkelige Repräsentanzen, in glattpolierten
Stein ohne irgendein eigenes, persönliches Merkmal, wie ein Spiegel, der nur
wiedergibt. Die Digitalisierung greift auch hier, dachte Sorger, die Bannung
des einmal ungestüm und in persönliche Eigenart gewachsenen Lebendigen in einen
kargen, flachen Bildschirm mit Schriftzeichen.
Sorger war auf den Gedanken gekommen an einem
Badestrand an der Adria. Dort standen Liegestühle mit Sonnenschirmen in langen
Reihen. Die eigentliche Ordnung aber war die nicht mit freiem Auge sichtbare
Zuordnung jeden Liegestuhls zu einem Hotel, und auch dort noch zu einer
bestimmten Urlauberfamilie, sodass man zugleich mit der Zimmerbuchung auch den
bestimmten Liegestuhl erhält als Teil des erworbenen Territoriums. Die
unsichtbare Zuordnung wird durch Strandwächter hergestellt, die frei
Umherschweifende, die sich an solch besetzten Orten niederlassen wollten,
sogleich mit Nachdruck vertrieben.
Sorger ahnte, dass die Versteinerung
menschlicher Repräsentation in den Quadern und Reihen Hand in Hand ging mit der
Monotonisierung der Seelen; die Einswerdung mit dem Territorium machte sie zur
Bewohnerin eines unsichtbaren Gefängnisses, und dass dieses von elektronischen
Medien bewacht wurde, wie sich neuerdings herausstellte, erschien ihm wie die
logische Konsequenz.
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