Samstag, 28. Februar 2015


Die erste Entdeckung, als Sorger in der Provinz ankam, in diesem alten, leerstehenden Pfarrhof, offensichtlich seit Jahrzehnten nicht bewohnt und für fremde Bedürfnisse möbliert, während an seiner künftigen Arbeits- und Wohnstätte noch gebaut und renoviert wurde, eine vorübergehende Bleibe also, in der Mitte eines fremden Dorfes, das fremd bleiben sollte, mit einer fremden Sprache und ohne irgendeinen Berührungspunkt, wenn man von dem Tennisplatz absah und dem Freibad, das er dann zwar häufig besuchte, aber dort dann nicht die Dorfbewohner traf, sondern die Talbewohner, die Urlauber, die Ausflügler. Ein Schwimmbad ist geradezu das Gegenteil von Wohnen. Auch wenn viele mit ihren Kühltaschen und Kinderspielsachen aufmarschieren und sich am liebsten ein Wohnzelt hingestellt hätten auf die Liegewiese. Spätestens am Abend mussten sie doch alles wieder räumen und die Wiese verlassen, damit sich das Gras wieder aufrichten konnte und die Wellen sich wieder glätten.
Die erste Entdeckung war der Friedhof.
Nicht, dass er auf einem Erkundungsgang zwischen den Gräbern umhergestiegen wäre.
Nicht, dass er die Aufschriften studiert hätte mit ihren Sprachen und den wenigen, immer gleichen Namen.
Die Bewohner waren es, die ihn staunen ließen.
Wie ist es möglich, dass in einem so kleinen Dorf, das sich in fünfzehn Minuten von einem bis zum anderen Ende durchschreiten ließ, keine Stunde vergeht ohne Friedhofsbesucher, fragte sich Sorger. Vom Morgen bis zum Abend.
Immer wieder hörte er den Wasserhahn rinnen, hörte die Gießkannen volllaufen, hörte die Stimmen der Besucher ohne Scheu laut etwas über die Mauer hinweg rufen. Es schien sogar, als würden Familientreffen abgehalten hier, zuweilen tollten Kinder über den Platz, während Erwachsene frische Erde heranschafften oder Blumenstöckchen aus dem Kofferraum, geschäftig alles, ein Teil des Dorflebens, vielleicht sogar der wichtigste, sicherlich der wichtigste, da es ja kein Gasthaus gab und Tennisplatz, Schwimmbad und die Haltestelle der Bahnlinie nur zum Teil dem Dorf zu gehören schienen.
Was aber macht den Friedhof zu einem Mittelpunkt des Lebens?, über legte Sorger, am Fenster hinunterblickend auf die an der Friedhofsmauer geparkten Autos.
Müssen die Toten bewacht werden?
Damit sie dort blieben und nicht gesetzwidrig die Hinterbliebenen nochmals heimsuchten und ihre abgelaufene Frist eigenmächtig verlängerten, die Ordnungen des Lebens durcheinanderbringend und die Grenzen verwischend?
Oder mussten die Toten versorgt werden mit brennenden Kerzlein oder frischen Schnittblumen für die Vasen, die unaufhörlich weiterwachsenden Bärte gestutzt und die Hügelchen gekämmt, da sie das selbst nicht mehr konnten wie in ihren letzten Jahren eine greise Urgroßmutter in ihrem Stuhl in der dunklen Stube.
Vergeblich suchte Sorger in ihren Gesichtern und Bewegungen nach Anzeichen von Andacht oder Trauer, von Nachdenklichkeit oder Ergriffenheit. Am Friedhof herrschte eine Alltäglichkeit wie an jedem anderen Ort, auch zwischen den Wochentagen und Sonntagen war kein Unterschied zu erkennen.
Erst viel später, und an einem anderen Ort, begann Sorger zu begreifen, dass es sich um nichts anderes handelte als um eine erweiterte Form des Wohnens. Das Grab war eine Verlängerung des Vorgartens.
Ein beschrifteter Teil des eigenen Hauses, von jedermann zu identifizieren.
Ein Familienterritorium, das wie eine Schnittmenge die verzweigten Wohnstätten der Angehörigen vereinte.
Eine gemeinsame Repräsentanz der verstreut Lebenden, die ihre Zusammengehörigkeit hier hatten, an diesem Ort, der durch einen Namen markiert war, einem Familiennamen und zwei Zeitangaben.
Die Repräsentanz war das Grab, Familienterritorium, Abkunftsmarkierung, Zuordnungspunkt, Erklärungsgeschichte, Rechtfertigungsort für die Lebenden.
Der Friedhof im Ganzen aber war die Repräsentation des Dorfes.
Hier war jeder Teilnehmer ausgestellt. Von hier liefen Fäden in jedes Haus. Hier zeigte sich der Zustand jeder Familie. Wie der Zustand der Kleidung, der Frisur, des Blumenkistchens am Fenster, des gewaschenen Autos vor dem Haus.
Die Form des Grabsteins.
Die Länge der heruntergebrannten Kerze.
Die Frische der Blumen.
Und welches Bild gaben die Gräber?
Bestürzt stellte Sorger fest, dass die Grabsteine immer mehr zu grauen Blöcken wurden wie in der Stadt, die kunstvoll geschmiedeten Kreuze verschwanden, Holzkreuze gab es ohnehin kaum mehr, als wäre es peinlich geworden, mit dem Holz des Kreuzes in irgendeine Verbindung gebracht zu werden. Stadtblöcke. Blockstädte. Quader. Monolithen. Male. Selbst die runden Grabhügel, eigentlicher Mittelpunkt der Betriebsamkeit und immer noch an die Form des Liegenden erinnernd, wurden allmählich abgelöst und verdrängt durch in geraden Stein gefasste Platten der Gräber jüngeren Datums, und erst recht durch die sogar in dieser Dorfidylle auftauchenden Urnengräber, noch versteckt in der rückwärtigen Friedhofsmauer. Der ganze Friedhof schien in einer unmerklichen Wandlung begriffen, schien seine erdig hügelige Lebendigkeit zurückzuziehen in bloß flache rechtwinkelige Repräsentanzen, in glattpolierten Stein ohne irgendein eigenes, persönliches Merkmal, wie ein Spiegel, der nur wiedergibt. Die Digitalisierung greift auch hier, dachte Sorger, die Bannung des einmal ungestüm und in persönliche Eigenart gewachsenen Lebendigen in einen kargen, flachen Bildschirm mit Schriftzeichen.
Sorger war auf den Gedanken gekommen an einem Badestrand an der Adria. Dort standen Liegestühle mit Sonnenschirmen in langen Reihen. Die eigentliche Ordnung aber war die nicht mit freiem Auge sichtbare Zuordnung jeden Liegestuhls zu einem Hotel, und auch dort noch zu einer bestimmten Urlauberfamilie, sodass man zugleich mit der Zimmerbuchung auch den bestimmten Liegestuhl erhält als Teil des erworbenen Territoriums. Die unsichtbare Zuordnung wird durch Strandwächter hergestellt, die frei Umherschweifende, die sich an solch besetzten Orten niederlassen wollten, sogleich mit Nachdruck vertrieben.
Sorger ahnte, dass die Versteinerung menschlicher Repräsentation in den Quadern und Reihen Hand in Hand ging mit der Monotonisierung der Seelen; die Einswerdung mit dem Territorium machte sie zur Bewohnerin eines unsichtbaren Gefängnisses, und dass dieses von elektronischen Medien bewacht wurde, wie sich neuerdings herausstellte, erschien ihm wie die logische Konsequenz.

Dienstag, 17. Februar 2015


Sorger lief ins Zwielicht hinein, 

in ein milchgraues Etwas, in dem kein Himmel auszumachen war, keine niedrige Wolkendecke und keine Dämmerung, und die schneebedeckte Straße verlief sich ohne Übergang nach allen Seiten. So ähnlich konnte sich jeder seine Sonntagnachmittage vorstellen, obwohl er nur selten eine Andeutung darüber machte, vielleicht am ehesten damals, als er meditatives Laufen anpries, Lebenslauf hatte er es genannt, und was er dabei genau vorhatte, ist nicht bekannt, weil nie jemand kam und teilnahm. Mehr spürte als sah Sorger die von Autoreifen festgepressten Spuren und mied sie, weil sie seinen Fußsohlen keinen Wiederstand gaben, und suchte lieber den frischgefallenen Schnee dazwischen, der ihn samtig aufnahm und von dem er sich wieder abdrücken konnte, scharfe Trittspuren hinterlassend für eine halbe Stunde, bis auch sie wieder zugedeckt waren und so jede Spur getilgt. Leichtfüßig war er diesmal, schon beim ersten sanften Anstieg schien sich sein Laufgestell hineinzulegen in die Strecke, ihn hinaufzuziehen die weiten Bögen der Dorfstraße, an Weidezäunen und Hofmauern entlang, während unablässig die Flocken niedersanken auf Sorger, auf die Straße, auf die leeren Wiesen und die weißen Dächer, als ob das alles gleich wäre, einerlei, eigentlich nichts wäre, ohne Eigenheit und Kontur. Niemand war zu sehen an diesem Abend, alles hatte sich zurückgezogen, kein Atemzug, höchstens einmal Rauchschwaden, die Sorger noch wahrnahm, wer weiß womit da geheizt wurde. Aus den Ställen kam kein Laut, auch kein Stampfen, sogar das Hundegekläff aus dem Tierasyl blieb aus, als wollte nichts sich verraten durch irgendeine Regung, sondern die Gunst der Stunde nutzen und untertauchen.

Sorger hörte die Stimmen noch einmal, von den kurzen Gesprächen am Vormittag, von dem Mitarbeiter, der das bereits Vereinbarte nocheinmal in Frage stellte, der nun ein Aber dazusetzte hinter die Vereinbarung, und er meinte darin eine andere Stimme zu mitzuhören, die sich da hineinmischte und auf den Mesner Einfluss zu nehmen versuchte, ohne ihn selbst darauf anzusprechen. Sorger spürte, wie er umgangen werden sollte, weil jemand die direkte Anrede scheute – eine Person, die gleichwohl heute anwesend war, aber unentwegt mit anderen ins Gespräch vertieft, und immer so, dass sie ihm den Rücken wies und mit großem Nachdruck auf andere Mitarbeiter einredete, er konnte nicht ausnehmen, worüber, und es schien sich immer wieder fortzusetzen, sodass Sorgers Begrüßungen es nicht hatten unterbrechen können, als er jedem die Hand schüttelte, und schließlich war er mitten durch die Gruppe hindurchgegangen und an seine eigene Arbeit geschritten.
Bei der Predigt hatte er dann von den vielen Stimmen gesprochen, die jeder hörte, bei den Entscheidungen des Alltags, wo Gründe gewogen wurden, aber auch bei den durch Massenmedien verbreiteten Meinungen, die von Menschen für die eigenen gehalten wurden, sodass Sorger in der Stimme eines Sprechers zuweilen die Stimme des Redakteurs hören konnte, dessen Artikel er am Vortag in der Zeitung gelesen hatte. Daran erinnerten sich später viele. Und über die Telefone und neuen Medien würden Stimmen auf die Menschen einprasseln und sich wichtig machen und sie zu beherrschen suchen mit ihren Klingeltönen, und sie würden auf bereitwillige Unterwerfung treffen wie bei dem Besessenen in der Synagoge, wo sie sich allerdings verraten hätten, als sie sich Jesus ängstlich entgegenstemmten und sich an ihre Herrschaft klammerten: Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth – wir, sagte der Mann, tönte es aus dem Mann, hörte es die ganze Gemeinde in der Synagoge, hörte auch Jesus, obgleich dort nur ein Mann saß inmitten stumm Gaffender, ein Besessener. Später war es still um ihn geworden, nachdem die Geister ihn unter Geschrei verlassen hatten, hörte man auch von ihm nichts mehr, nun, da es seine eigene Stimme gewesen wäre. Darüber hatte Sorger gar nicht mehr gesprochen, dass der namenlose Mann offenbar nach seiner Befreiung verstummt war, dass man nichts mehr von ihm hörte, als wäre er ohne die Geister nicht mehr interessant und hätte, rein aus sich selbst, gar nichts zu sagen.
Er sah ihre Gesichter wieder, spürte, wer bei welchem Wort zusammenzuckte, oder wessen Gesicht sich bei einer Erklärung aufhellte, sah auch noch einmal, wer konsequent zu Boden blickte oder zum Nachbarn, während Sorger zwischen den Reihen stand und nach links und rechts sprach, Fragen stellte und Beispiele gab.
Später, als er mit den Taufbewerbern die Stelle noch einmal durchging, auf Englisch und mit der Übersetzung in Farsi, da nickten sie, oder als er die Dämonen, die den Persern auch aus der schiitischen Glaubensvorstellung vertraut waren, mit Stimmen wiedergab, ging ein Murmeln reihum, und sie erkannten die Übertragung und akzeptierten sie. Überhaupt schien es ein besonderes Einverständnis zu geben zwischen ihm und den Asylsuchenden, ob sie aus Persien oder Afghanistan oder Kamerun kamen oder aus Nigeria. Das sagten alle übereinstimmend; nur war es eine andere Frage, ob man das befürwortete und zustimmte. Manche hätten den Pfarrer lieber für sich allein gehabt, wurde ihm zugetragen, und es war nicht recht auszumachen, wie die Überbringer der Stimmen dazu standen. Und was solle es überhaupt bedeuten: den Pfarrer für sich haben. Sie machen doch ohnehin, was sie wollen! Sollte es nicht eher heißen: er solle ihnen zustimmen? Ihren Ansichten. Ihren Lebenswegen. Ihrer Verschrobenheit und Selbstgenügsamkeit. Vielleicht war gerade das der Grund des Misstrauens gegenüber den Fremden: dass sie die Provinz infrage stellten, mit ihrem Weltblick. Den der Pfarrer offenbar erwiderte.